Wir wissen bislang nur wenig über die Biodiversität unserer Erde. Aktuellen Schätzungen zufolge unterscheiden wir weltweit acht bis zehn Millionen Tier-, Pflanzen- und Pilzarten. Von diesen wurden nur etwa zehn Prozent wissenschaftlich beschrieben. Auch in Deutschland sind noch tausende Arten unentdeckt und unbenannt. Doch ohne tiefgreifendes Wissen über Arten und ihre Bedeutung im Gesamtsystem fehlt die Grundlage für Schutzmaßnahmen. Mit welchen Methoden und Maßnahmen bekommen wir Licht ins Dunkel der Biodiversität?
Zukunftsszenarien mit Datenmodellierung
Wie können wir vorhersagen, wie sich der Verlust von Lebensräumen oder der Wandel des Klimas auf Tiere auswirkt? Wie können wir daraus Szenarien entwickeln, in denen wir beschreiben, wie sich Arten verbreiten und an Veränderungen anpassen? Ein internationales Forschungsteam unter LIB-Leitung geht diesen Fragen mit unterschiedlichen Methoden nach. Durch die Kombination diverser Daten wie der Temperaturentwicklung, berechnen unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Modelle zu bestehenden Lebensräumen und weiteren möglichen Verbreitungsgebieten verschiedener Tierarten. So ist beispielsweise der Glatte Krallenfrosch auf alle Kontinente eingewandert und gilt als invasive Art. Anhand der Modellierung seiner Verbreitung konnten unsere Forschenden konkrete Schutzmaßnahmen ableiten wie die Entfernung künstlicher Teiche auf Golfplätzen. Die bei uns heimische Zauneidechse können wir zum Beispiel im Kölner Raum unterstützen, indem wir Verbindungen der getrennten Lebensräume wiederherstellen. Für diese Zukunftsszenarien zur Verbreitung und zum Schutz der Zauneidechse hat das Team Satelliten- und Drohnendaten mit Feldexperimenten kombiniert.
Arten-Identifizierung per Barcode
Wie der Strichcode an der Supermarktkasse die Preise ausliest, identifiziert der DNA-Barcode bekannte Arten – und erkennt neue. Unbekannte Proben können so sehr zuverlässig über eine Referenzdatenbank einer bereits beschriebenen Art zugeordnet werden. Seit 2003 entwickeln Taxonominnen und Taxonomen diese Methode weiter und bauen diese Datenbanken aus, um massenhaft Proben aus unserer Umwelt schnell und zuverlässig analysieren zu können. Anhand von DNA-Spuren im Wasser, im Boden oder sogar in der Luft weisen sie nach, welche Arten dort leben oder was an diesem Ort vorbeigeschwommen, gekrochen oder geflogen ist. So erhalten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wichtige Informationen über Ökosysteme und die Lebensräume der Arten. Unsere Forschenden arbeiteten intensiv an der Erstellung und Koordinierung von DNA-Barcode-Referenzdatenbanken mit. Im Rahmen der LIB-Projekte German Barcode of Life (GBOL)*, Caucasus Barcode of Life (CaBOL)* und Biodiversity Genomics Europe (BGE)* wurden allein in den vergangenen zwölf Jahren über 20.000 Arten mit mehr als 200.000 Proben gesammelt, mit DNA-Barcodes versehen und frei zugänglich gemacht.
Bildungsprogramme begeistern für Natur
Amsel, Drossel, Fink und Star – wer hält sie auseinander? Kaum noch jemand. Die Kenntnis über heimische Arten schwindet zusehends. Dies bestätigen leider auch verschiedene Studien. Vielen Menschen fehlt zunehmend die Verbindung zur Natur. Wir haben uns von ihr entfremdet. In Schule und Studium spielt die Kenntnis von Tierarten keine große Rolle mehr. Doch ist das Wissen um die Vielfalt der Lebewesen und die Freude am Naturerlebnis Voraussetzung für deren Schutz. Wir am LIB möchten daher alle Menschen für die Schönheit und Vielfalt der Arten begeistern und für unsere Abhängigkeit von gesunden, vielfältigen Lebensräumen sensibilisieren. Unsere Bildungsprogramme erstrecken sich von kurzweiligen, spielerischen Erkundungstouren bis zu mehrjährigen Wissensprojekten für Kinder und Jugendliche (Taxonomiewerkstatt*, FörTax*) und Projekten in Schulen, wie HUMANS*. Darüber hinaus bieten wir Fortbildungen für Lehrende und Mitarbeitende des Zolls an. Bei Veranstaltungen wie dem „Langen Tag der StadtNatur Hamburg” gehen Naturinteressierte mit Forschenden auf Erkundungstour. Auf der digitalen Meldeplattform für gebietsfremde Arten www.neobiota-nord.de* erfassen Bürgerinnen und Bürger mit uns Daten und mehren Wissen.
Ausbildung in Artenkenntnis
Wir verlieren nicht nur Arten. Auch das Fachwissen schwindet. Zwar trainieren wir im LIB auch Maschinen im Erkennen von Arten, jedoch können Künstliche Intelligenz, Robotik und Gentechnik lediglich unterstützen. Diese Methoden ersetzen nicht das umfassende taxonomische Wissen der Expertinnen und Experten, vor allem, wenn es um die Identifizierung von Tierarten der unglaublich diversen Insektengruppen wie Käfer, Fliegen und Mücken, Bienen und Wespen geht. Wir haben deshalb unsere Ausbildung zu Artenkennerinnen und -kennern in den Fokus gerückt – bei Schulungen in den Museen, bei der Fortbildung professioneller Gutachterinnen und Gutachter sowie bei Studierenden und bei der Betreuung von jährlich über 60 Bachelor- und Master-Abschlussarbeiten und vielen Promovierenden. Auch international fördern wir die Artenkenntnis: In Zusammenarbeit mit vielen unterschiedlichen Institutionen geben wir Artenwissen und Kenntnisse zur Bestimmung von Arten rund um den Globus weiter.
Digitale Sammlungen als globale Wissensspeicher
Wissenschaftliche Sammlungen mit Originalobjekten bilden das Herz unseres Forschungsmuseums. Über die Arbeit mit den Proben hinaus ermöglichen digitale Kataloge einen schnellen Austausch von Sammlungsdaten. Im internationalen Verbund bieten sie eine globale Perspektive auf die biologische Vielfalt und fördern den Wissensaustausch. Das LIB engagiert sich dafür, Sammlungen zu vernetzen, zugänglich und nutzbar zu machen, um so gesellschaftlich relevante Fragen noch besser beantworten zu können. Das hier gespeicherte Wissen wird herangezogen, um Lösungen für Probleme wie Nahrungsmangel und für die menschliche Gesundheit zu finden. Unsere wissenschaftlichen Sammlungen sind seit 2023 im ersten globalen Digitalkatalog der 73 weltweit größten Naturkundemuseen gelistet.1 Er verbindet mehr als eine Milliarde Objekte aus 28 Ländern. Jedoch: Nur 16 Prozent dieser weltweit gesammelten Objekte verfügen bislang über digitale Datensätze.
Einfach gesprochen: DNA-Barcoding
DNA-Barcoding ist eine Methode, um Lebewesen anhand ihres genetischen Codes bis auf die Art zu identifizieren. Ein ganz bestimmter kleiner DNA-Abschnitt eines Gens (oder manchmal mehrere Gene) aus dem Gesamtgenom, der ganz spezifisch für jede Art ist, wird sequenziert und mit einer Referenz-Datenbank abgeglichen und erkannt.