Die Institution Naturkundemuseum ist im Umbruch. Sammeln, bewahren, erforschen, ausstellen – das alles bleibt. Jedoch ändern sich die Perspektive, die Methoden, der Diskurs, das Management. An der Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher Expertise und Vermittlung wird das Forschungsmuseum der Zukunft zum Verhandlungsraum für den Umgang mit Natur. Über unterschiedliche Sprachen, Formen und Wege möchte es einem diversen Publikum Orientierung bieten und positive Impulse zur Lösung von menschengemachten Naturkrisen geben. Der gesellschaftspolitische Anspruch verändert die traditionelle Institution in ihren Grundfesten.
Ein Interview mit Katrin Vohland, Generaldirektorin Naturhistorisches Museum Wien (NHM), und Bernhard Misof, Generaldirektor LIB:
LIB: Was ändert sich an der Institution Naturkundemuseum?
Dr. Katrin Vohland: Das Museum der Zukunft hat viele Aufgaben, die wir schon länger haben und auch behalten werden: Wir bewahren und erschließen diverse Sammlungen und betreiben Forschung mit moderner Technik und aktuellen Methoden. Wir sind die große Schnittstelle zur Öffentlichkeit, was Bildung angeht. Das Museum der Zukunft ist gerade sehr intensiv vom International Council of Museums (ICOM) diskutiert worden. Die neue Definition rückt Funktionen wie Empowerment und Selbstermächtigung viel stärker in den Vordergrund, ebenso wie die globalen Nachhaltigkeitsziele, die Einbindung der Gesellschaft über Citizen Science, über Partizipation, auch das Aushandeln von Natur.
Prof. Dr. Bernhard Misof: An den Museen der Zukunft finde ich spannend, dass sie sich im gesellschaftlichen Transformationsprozess, den wir jetzt gerade beobachten können, auch selber orientieren müssen und gleichzeitig Orientierung bieten sollten. Bei der sammlungsbezogenen Forschung kommt mit der Naturschutz- und Monitoringforschung eine ganz neue Methodik mit einer neuen Relevanz in unsere Museen hinein. Hier können neben den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Bürgerwissenschaften eine extrem große Rolle spielen, zum Beispiel bei den Daten zu den Vögeln in Europa. Unsere Strukturen und Netzwerke zum langfristigen Management der Daten können von Vereinen und Gesellschaften genutzt werden. Ich sehe Museen als Ankerpunkte für Menschen, die hier mitarbeiten wollen.
K. Vohland: Ich glaube, dass Naturkundemuseen den geistes- und sozialwissenschaftlichen Aspekt und die Methoden aus den Sozialwissenschaften stärker integrieren müssen – weil sie eine transformative Funktion haben und damit auch transdisziplinäre Forschung betreiben. Sie haben einen großen Zugang zu verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und deren Wertehaltung.
B. Misof: Wir müssen hier Wege gehen, die wir früher nicht gegangen sind. Das Neue müssen wir so integrieren, dass wir den Ort der Kompetenz nicht verlieren, für den wir als Museen stehen. In der Vergangenheit haben wir Pflanzen und Tiere und vielleicht auch Gesteine ausgestellt. Jetzt haben wir als zentrales Moment im Haus die Polarität zwischen Natur und Mensch – die eigentlich gar keine sein sollte. Das fordert eine Neukonzeption unseres gesamten Denkens, wie so ein Haus funktioniert. Hier müssen wir auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter integrieren.
K. Vohland: Genau, das fordert eine andere Art von Leadership. Wir müssen sehr viel partizipativer werden – auch im eigenen Haus. Letztlich müssen wir schauen, wie wir die Arbeit jenseits der Forschung bewerten. Auch die Wissenschaftskommunikation wertzuschätzen und auf die politische Ebene zu bringen – da haben wir noch ein bisschen was vor uns.
LIB: Was bedeutet das für die Führungs- und die Organisationsstruktur?
B. Misof: Wenn ein Naturkundemuseum auch sozial- und geisteswissenschaftliche Aspekte berücksichtigt, lösen wir die Verinselung der Fachdisziplinen auf. Wie kriegt man das organisatorisch in den Griff? Das sind Fragen des Managements, die völlig neu in einem Museum sind.
K. Vohland: Das stimmt. Auf der einen Seite braucht man die fachliche Expertise, auf der anderen Seite Menschen, die über ihren Horizont hinausdenken. Für mich heißt das, dass man das Museum nicht nur managen kann. Ich verstehe meine Rolle als Leadership und als Empowerment von den Mitarbeitenden. Wir bemühen uns, Formate anzubieten, in denen wir gemeinsame Strategien entwickeln und uns fragen: Welchen Impact wollen wir als Museum haben?
B. Misof: Glaubst du, die Besuchenden bekommen mit, was wir tun, wie wir uns verändern?
K. Vohland: In den Köpfen vieler Besucherinnen und Besucher sind wir mit einem verstaubten Image verbunden. Und wenn wir unsere Selbstwahrnehmung und die Diskurse mit anderen Museen angucken, sind wir wirklich ganz woanders: Wir haben einen Innovation-Hub, wir kooperieren mit Industrien, wir laden die Politik ein. Wir diskutieren die Interessenkonflikte im Bereich Naturnutzung, wir verhandeln, wie man die Natur schützen kann. Wir haben ganz moderne Methoden hier im Haus. Unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tragen ihre Forschung über professionell aufgebaute Formate der Wissenschaftskommunikation nach außen. Auf unserer Experimentierplattform Deck 50 zum Beispiel ist das durchinszeniert. Dafür bieten wir entsprechende Schulungen an. Das alles bekommt die Öffentlichkeit nicht automatisch mit.
B. Misof: Wir haben genau das gleiche Problem. Besuchende sind total verblüfft, wenn wir darüber erzählen, was wir intern alles machen im Bereich der Sammlungen. Wie wir uns mit den Themen theoretisch beschäftigen, wo wir gerade stehen. Doch wir kämpfen gegen ein Image, das wir noch nicht erfolgreich verändern konnten.
K. Vohland: Ich glaube, das Image wird sich dann verändern, wenn das Museum auch Einfluss auf das eigene Leben hat, wenn wirklich Bildungserfolge da sind, wenn man auf einmal inspiriert wird, wenn man irgendwas versteht, wenn man mit seinen Kolleginnen und mit seinen Freunden über Sachen spricht, die man hier im Museum erfahren hat. Das braucht vielleicht einfach ein bisschen Zeit.
B. Misof: Ich habe mich vor kurzem mehr mit Kunst beschäftigt, weil ich von der These ausgegangen bin, dass man in diversen künstlerischen Ausdrucksformen sehr häufig am schnellsten und radikalsten gesellschaftliche Transformationsprozesse erkennen kann und bin bei Graffitis gelandet. Diese Graffitis schaffen eine Reflexions-zone für Menschen außerhalb der Museen. Deshalb möchten wir anfangen, mit Graffitis zu arbeiten und ausprobieren, ob es eine Sprache ist, die auch einem Museum zugutekommen kann.
K. Vohland: Das ist auch eine Sache, über die wir nachdenken. Wie kommen wir aus der Blase raus? Wir wollen das Bildungsbürgertum behalten, das sind die Träger der Gesellschaft. Wie kommen wir an die Gruppen heran, die fern sind? Wir versuchen zu verstehen, inwieweit Museen auch die Sprachentwicklung und Selbstwirksamkeit unterstützen können. Welche Rolle spielt das Museum als Ort? Welche Rolle spielen die Objekte? Welche Rolle spielt das Museum in der Entwicklung von jungen Menschen?
LIB: Wie fängt das Museum die unterschiedlichen Interessen auf?
B. Misof: Ein Museum muss Möglichkeiten schaffen, Menschen in Interaktion treten zu lassen, um sich zu äußern, sich auf einen möglichen Konsens oder zumindest auf den Dissens zuzubewegen, um ihn zu verarbeiten.
K. Vohland: Wir bieten ein Forum, um die Interessen auszuhandeln. Hier kann man den Dissens wahrnehmen, die Interessenkonflikte formulieren und gucken, was liegt dahinter? Wir stehen an der Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis, Expertise und dem Aushandeln von Interessen. Wir setzen Themen und tragen wissenschaftliche Expertise auch proaktiv in die Gesellschaft. Aber wir machen keine Parteipolitik, wir lassen uns nicht instrumentalisieren.
B. Misof: Ja, wir liefern einen Platz, an dem eine Verhandlungssituation über Werte möglich wird.
LIB: Wie politisch dürfen oder müssen Museen sein?
K. Vohland: Wir wissen um die Bedeutung von Tieren, Pflanzen, Pilzen für das gesamte Ökosystem, für das Wohlergehen von Menschen. Und insofern müssen wir so politisch sein, dass wir sagen: Es ist ein Thema, wenn wir jetzt Biodiversität verlieren. Es ist ein Problem für die Menschheit und wir kennen auch die Treiber. Was wir machen können, ist, diese Themen zu zeigen und auch die Konsequenzen. Ich glaube, es geht nicht nur um Werte, es geht ganz oft um Land und Landnutzung. Was machen wir eigentlich mit dem Land? Bauen wir da Tierfutter an oder ein Einkaufszentrum hin? Ist es ein Naturschutzgebiet? Man braucht die Fläche. Und das ist für mich der Hauptkonflikt. Wir sind politisch, selbst wenn wir behaupten, wir wären unpolitisch. Allein schon dadurch, dass wir uns mit natürlichen Rohstoffen, mit Mineralien, mit der Evolution von Menschen beschäftigen, sind wir politisch.
B. Misof: Ja, ich sehe das ganz genauso. Bei unserer letzten Besucherstrukturanalyse haben wir die Frage gestellt: Erwarten Sie von uns auch eine politische Positionierung? Und mit einer erstaunlich großen Mehrheit erwarten unsere Besuchenden tatsächlich Aussagen aus dem Haus, die gesellschaftspolitisch relevant sind. Was bedeuten Klima und Biodiversitätskrise? Wer sind die Treiber dieser Biodiversitätskrise? Eine gesellschaftspolitische Aussage ist auch: Wir müssen unser Konsumverhalten verändern. Das war für uns verblüffend. Denn in der Vergangenheit haben wir immer davon gesprochen, dass Wissenschaft, auch Museen, sich politisch neutral verhalten müssen. Wenn wir über die Themen nachdenken, die wir bespielen, geht das überhaupt nicht. Und das heißt, eine Positionierung ist auch ganz klar hier von uns zu tätigen und wird auch von uns erwartet.
K. Vohland: Die Frage ist: Was ist die Verantwortung der Wissenschaft, was die Verantwortung von Einzelnen? Was ist die Verantwortung von Politik, die grundsätzlich für die Rahmenbedingungen zuständig ist?
LIB: Mit welchen Eindrücken sollen die Besuchenden nach Hause gehen?
K. Vohland: Ich freue mich, wenn die Menschen, die unser Museum besuchen, etwas mitnehmen über die Natur, über die Prozesse von Evolution. Wichtig ist, dass es etwas Positives ist, dass sie sich gestärkt fühlen in dem, was sie denken und auch für die Natur tun wollen und diese Inspiration mit nach Hause nehmen.
B. Misof: Ich kann da nur aus unserem Gästebuch in Bonn zitieren, wo die Mehrzahl der Einträge mittlerweile lautet: Wir wollen gerne aus diesem Haus auch mit Lösungen raus gehen, die wir privat in unserem Garten umsetzen können. Also mit etwas Positivem. Und darum geht es, glaube ich, wirklich.
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Prof. Dr. Bernhard Misof, Generaldirektor Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB), im Gespräch mit Dr. Katrin Vohland, Generaldirektorin Naturhistorisches Museum Wien (NHM) und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des LIBs
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Naturnahes Erlebnis
Seit Dezember 2022 können Besuchende des Museums Koenig Bonn im naturnah inszenierten Regenwald tief in die Zusammenhänge dieses einzigartigen Ökosystems eintauchen. Neben einem sinnlichen Erlebnis lädt die Ausstellung zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Konsumverhalten ein.
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Faszination Forschung
Die Wanderausstellung “Facettenreiche Insekten“ hat 2022 im Museum der Natur Hamburg ihren Auftakt genommen. Besuchende bekommen in interaktiven und anschaulich aufbereiteten Angeboten einen Einblick in die Erforschung dieser gefährdeten und so faszinierenden wie ökologisch wichtigen Tiere.

Die Stimme der Besuchenden
Wer besucht eigentlich unsere Museen und warum? Und wie verändern sich die Erwartungen unserer Gäste in einer sich rasant entwickelnden Gesellschaft? Das sind Fragen, mit denen sich unsere Besuchendenforschung seit 2021 am LIB befasst.
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Expedition auf Abwegen
Scheitern gehört zur Wissenschaft wie der missglückte Versuch zum Experiment. Hier nehmen uns unsere Forschenden Ralph Peters und Umilaela Arifin mit auf die weniger ruhmreichen Etappen ihrer Forschungsreisen.